Die Coronavirus-Pandemie kann auch reiche Länder an die Kapazitätsgrenzen ihrer Gesundheitssysteme bringen. Frankreich hat in der ersten Welle der Pandemie Patientinnen und Patienten in die Schweiz geschickt. Belgien schickt jetzt welche nach Deutschland. Und was tut das reichste Land Europas? Die Schweiz denkt über eine Triage der Corona-Intensivpatientinnen und -patienten nach. Wir fragen uns also nicht, wie wir möglichst alle behandeln, die intensivmedizinische Behandlung brauchen. Wir fragen stattdessen, welche von ihnen wir eventuell leider nicht behandeln können. Das ist beschämend.
Es wäre stossend genug, würden solche Erwägungen vonseiten unserer Wirtschaftsverbände in den Diskurs eingebracht. Die Institution, die dieser Tage mit ihrem Papier «Triage bei Ressourcenknappheit auf Intensivstationen» ihre Richtlinien «Intensivmedizinische Massnahmen» aus dem Jahr 2013 ergänzt hat, ist aber die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW mit ihrer nationalen Ethikkommission NEK. Bedauerlicherweise kommt dies auch nicht wirklich überraschend. Vielmehr entspricht es dem Rationierungs-Kurs, den die SAMW seit gut zehn Jahren verfolgt. Während vonseiten der Ethik in anderen Ländern etwa das Konzept der qualitätsbereinigten Lebensjahre teilweise massiven Widerstand erfahren hat, hat die SAMW sich hierzu nie kritisch geäussert und auch die Arbeit des Swiss Medical Boards SMB nicht hinterfragt. Damit wurde ein Paradigmenwechsel, wenn nicht befördert, so doch hingenommen: Kosten-Nutzen-Abwägungen als Grundlage medizinischer Behandlungsentscheide. Wohin dies führt, haben wir während des Lockdowns im Frühling gesehen, als in den Medien mit einer irritierenden Nonchalance der Wert eines Menschenlebens verhandelt wurde.
Das Argument, ohne funktionierende Wirtschaft seien auch keine funktionierenden Gesundheitswesen möglich, greift zu kurz. Ohne eine gesunde Bevölkerung ist wirtschaftlicher Erfolg nicht zu leisten. Wir haben heute in der Schweiz ein Fallpauschalensystem, das de facto ein Rationierungsinstrument ist und unsere Spitäler dazu zwingt, mit Codierungstricks dafür besorgt zu sein, wirtschaftlich zu überleben. Wir haben eine Beurteilungsmethode der freien ärztlichen ambulanten Medizin, das Praxen für die Behandlung schwer kranker Patientinnen und Patienten bestraft. Die Angst, dass wir uns unser Gesundheitswesen nicht mehr länger leisten könnten, hat neurotische Züge. Es ist an der Zeit, uns zu fragen, ob wir uns für den Gesellschaftsfrieden und die Unversehrtheit der in der Schweiz lebenden und arbeitenden Menschen eine wirtschaftsopportunistische Ethik noch länger leisten können. Wir haben die REGA und können uns die Verlegung von schwer an Covid-19 Erkrankten in andere Länder leisten. Es wäre ein Armutszeugnis, täten wir es nicht und liessen sie stattdessen sterben.”